Für den Cellisten-Nachwuchs ist er ein Guru, für Musikliebhaber ein Star und für den Heidelberger Frühling ein Traumpartner: Jean-Guihen Queyras. Der Virtuose am Violoncello ist »Artist in Residence« beim Heidelberger Frühling vom 17.März bis 21. April. Wir haben den sympathischen Musiker bei einer Probe in der Münchner Residenz getroffen.
Jean-Guihen Queyras ist Feuerwehrmann und Tierärztin zugleich. Das sind bekanntlich die Berufsideale, freilich Stereotype, die Kinder in Europa am häufigsten nennen, auf die Frage, was sie später einmal werden möchten. Wenn man an irgendeiner Musikhochschule, irgendwo in Europa, mit studierenden Violoncellisten redet, egal ob männlich oder weiblich, ist der am häufigsten genannte Name: Jean-Guihen Queyras. Ein Künstler wird zum Ideal.
Was braucht es, um zu einer solchen Referenz heranzuwachsen? Der Frankokanadier Queyras ist bekannt für seine glühend heißen Cellovokalisen, für seinen unbändigen Drang, die Linien immer noch eine Millisekunde ausdehnen zu wollen, egal welcher vertrackten Komplexität sie zu Grunde liegen, für seine kontinuierliche Perfektion im Umgang mit alten, mit neuen und vor allem mit abseitigen Werken und: für seine Bescheidenheit. Denn, und das ist vermutlich der springende Punkt für seinen Guru-Status unter den Studierenden, er will mehr, als nur dauerhaft Höchstleistung liefern oder im Rampenlicht zu sitzen. Sein Lebenslauf ist gespickt mit internationalen Preisen und Auftritten mit den Superlativorchestern der Welt. Zu den prägendsten Kooperationen zählt die jahrelange Mitgliedschaft im Ensemble InterContemporain, dem Musikerzirkel, den einst Pierre Boulez gründete. Er ist ein Getriebener, der für das Publikum immer auf der Suche ist.
Ungewöhnliche Programmzusammenstellungen sind ein Markenzeichen
Queyras ist bekannt für seine ungewöhnlichen Programmzusammenstellungen, egal ob Uraufführungen, Orchesterkonzerte, Konzeptabende oder Weltmusik. Durchschnittskombinationen findet man bei ihm selten, auch ein Grund, warum der »Frühling« sich für einen ausgedehnten Queyras-Aufenthalt in Heidelberg entschieden hat. Er wird von der ersten Sekunde an dabei sein. Mit dem Mahler Chamber Orchestra, einst gegründet von Claudio Abbado als Auffangbecken für entwachsene Mitglieder des Gustav Mahler Jugendorchesters, und mit dem Violoncellokonzert von Joseph Haydn wird Queyras den »Frühling« eröffnen (17. März). Noch immer schauen Musikkundige abschätzig auf »Papa Haydn« herab und degradieren ihn zum Bindeglied der Epochen. So wurde Haydn lange Zeit im Abseits beinahe gequetscht, von Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadé Mozart. Völlig zu Unrecht! Der Erste der »Wiener Schule« braucht nur keinen Holzhammer, um Neuerung ans Publikum zu bringen – hier reichen ein Holzinstrument und Queyras.
Eine Premiere: Marc-André und Jean-Guihen Queyras
Einer für alle, alle für einen! Mit der Violinistin Isabelle Faust und mit dem Pianisten Alexander Melnikov (24. März) verbindet Queyras eine langjährige und enge musikalische Freundschaft, die unter anderem eine exzellente Einspielungstrilogie von Kammermusikwerken von Robert Schumann hervorgebracht hat, bei der allen drei Instrumenten solistisch eine Platte gewidmet ist, sie aber durch das ausbalancierte Triospiel keine Rollenverteilung zulässt. Und hoffentlich ist das Festival 2018 der Ort, an dem eine weitere, eine neue bedeutende Freundschaft geschlossen wird. Die Initiative war lange überfällig. Eine Spezialität des »Frühling« ist es, Künstler zusammenzuführen, von denen das Festival sich eine künstlerisch fruchtbare Begegnung erwartet. Zuletzt waren es Sir Andras Schiff und Igor Levit, 2018 sind es der Pianist Marc-Andre Hamelin und Jean-Guihen Queyras. Dank der Vorbereitungen für dieses Projekt hatten die beiden ihr erstes Stelldichein, was sich der Cellist schon seit Langem wünscht. Damit kommen zwei zusammen, die sich nicht in Schubladen zwängen lassen und die Liebe zur virtuosen Forderung teilen (25. März). Und als wäre das nicht schon genug, mit perfektionistischer Selbstverständlichkeit hat Queyras auch endlich wieder den verunglimpften Begriff »Crossover« gerettet.
Zusammen mit Keyvan und Bijan Chemirani, die mit Queyras in der Haute-Provence aufgewachsen sind, hat er sich Jahre später in einem Aufnahmestudio verbarrikadiert und gezeigt, dass traditionelle Musikstücke aus der Türkei, Bulgarien und dem heutigen Griechenland sich auf inspirierende Weise mit zeitgenössischen Werken von Witold Lutosławski, Gyorgy Kurtag und Jorg Widmann kombinieren lassen. Beim gemeinsamen Fußballspiel in der Kindheit hatte daran wohl niemand gedacht. Es entstehen Gemeinsamkeiten, Gegensätze und Grenzüberschreitungen, die im blitzartigen Übergang von Genre zu Genre sowohl ästhetisch wie auch inhaltlich über den Tellerrand des Eurozentrismus blicken lassen. Der hiesigen Kunstmusik wird gerne nachgesagt, dass sie keine anderen Götter neben sich dulde. Hier wird das Gegenteil bewiesen! Die beiden Bruder Chemirani spielen entweder die Zarb, eine Kelchtrommel, die vor allem in der iranischen Musik und in Nordafrika gespielt wird, oder die Daf, eine Rahmentrommel, die ihrerseits musikhistorisch mit der Kelchtrommel in Konkurrenz stand. Der Vierte im Bunde des waghalsigen und genialen Melangekonzerts ist Sokratis Sinopoulos. Er wird mit seiner Lyra die griechische und türkische Klangwelt beisteuern. Improvisationen und Überraschungen inklusive (11. April).
Der »Frühling« und Queyras: ein »Match made in haeven«
Das alles klingt nach Avantgarde, schwarzem Rollkragenpullover und abgehobenem Zirkel. Nichts da! Jean-Guihen Queyras ist nahbar, wird sicherlich flugs zu den Stammgästen im Festivalzentrum gehören und dort in persönlichen Gesprächen gemeinsam mit seinen Verbündeten für die gute Sache kämpfen. Er ist ein bedachter Zuhörer, der lieber eine Sekunde länger wartet, bis er antwortet – ruhig, fokussiert und erdend: »Das Problem der meisten Konzerthäuser und Festivals ist, dass sie sich nichts trauen. Und wenn das nur alles wäre. Eigentlich vertrauen sie der Musik nicht. Gute Qualität setzt sich immer durch, egal ob die Musik alt oder neu ist.« Somit: Der Heidelberger Frühling und Jean-Guihen Queyras sind ein »match made in heaven«.
Denn auch das ganz große Solo-Repertoire für Cello erstrahlt in anderem Licht. Die sechs Suiten von Johann Sebastian Bach zählen zu den bekanntesten und geliebtesten Stücken der europäischen Musikgeschichte. Die Belgierin Anne Teresa De Keersmaeker, umtriebige Tanz-Choreografin, was die Bewegungen von morgen angeht, forscht tief im musikalischen Material Bachs. Suiten sind zusammengeschnürte Pakete für französischen barocken Tanz und genau das hat sie interessiert. Zurück zum Ursprung. Keersmaekers Compagnie Rosas versinnbildlicht die Harmonien der Solosuiten, in einer zweistündigen Performance wird nicht nur der musiktheoretische Hintergrund dieser Werke transformiert, auch philosophische Themen werden ästhetisch erfahrbar gemacht, wie Gedanken des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz, des Physikers Isaac Newton, der Disziplinen der Astronomie oder der mystischen Alchemie. »Mich hat die Arbeit mit Anne Teresa De Keersmaeker und ihrer Compagnie Rosas stark beeinflusst. Ich habe so nachhaltig das physikalische Fundament dieser Stücke von Johann Sebastian Bach verstanden. Sie sind für eine Symbiose geschrieben – Musik und Bewegung. Das verändert alles«, sagt Queyras. (9. April und 10. April)
So wird die Erfahrung mit einem Instrument, das von der Tonlage mit unserer menschlichen Stimme identisch ist, an mehreren Abenden durchdekliniert. Der Aufenthalt von Jean-Guihen Queyras wird sicherlich ein Segen. Er wird uns auf unserer Tonlage, auf Augenhöhe und genährt durch sein musikalisches Mitteilungsbedürfnis sehr viel erzählen. Über uns.