Im Gautinger Bosco begeistern Jean-Guihen Queyras und Alexandre Tharaud das Publikum. Erst nach der dritten Zugabe beruhigt sich dieses wieder.
Darf man das? So tun, als ob Marin Marais, der königliche Musikus zu Versailles, im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert für Violoncello und Flügel und nicht im frühen 18. Jahrhundert für Gambe und Cembalo komponiert hätte? Das experimentierfreudige und langjährig aufeinander eingespielte Duo Jean-Guihen Queyras (Violoncello) und Alexandre Tharaud (Klavier) wagte diesen Bruch in der Stilechtheit konsequent. Die Begeisterung des Publikums im Gautinger Bosco am Mittwochabend gab den beiden Franzosen zwar Recht, aber wäre auch der Komponist damit einverstanden gewesen?
Diese Frage ist nicht neu und wurde bereits vor allem in Bezug auf Jazz-Versionen von Bach-Werken lange hitzig diskutiert. Was bei Marais für das Wagnis spricht, ist die außergewöhnliche Selbstständigkeit der Instrumente und noch deutlicher die starke Ausdifferenzierung der Klavierstimme. Definitiv: Es handelt sich nicht um begleitete Gambenstücke, sondern um echte Duos, in denen sich die Instrumente gegenseitig aufs Engste ergänzen. Und dies mehr als ein halbes Jahrhundert vor Mozart.
Queyras und Tharaud nahmen diesen fortschrittlichen Geist zum Anlass, die Vielfalt der musikalischen Formen für eine reiche, dynamische und agogische Ausgestaltung zu nutzen, wie sie erst im 19. Jahrhundert zum Repertoire der Musiker gehören sollte. So mutierten die ausgewählten “Pièces de Viole” II und III zu ausgesprochenen Charakterstücken, denen man im Nachhinein gerne programmatische Titel verpasst hätte. Die barocken Tänze bekamen dadurch eine sinnenfreudige Pracht, wie man sie sich in der Prunkepoche des Barock in Frankreich gut vorstellen kann.
Mehr als die beiden kann man aus dem Material wohl kaum rausholen
Besonders in den “Couplets de Folies d’Espagne”, einer Reihe von Variationen über das populäre Folia-Thema. Hier zogen Queyras und Tharaud alle Register der spieltechnischen Differenzierung und spannten ein weites Spektrum an Ausdrucksvarianten auf: etwa lyrisch, tänzerisch, resolut, kapriziös, verträumt, hymnisch, wirbelnd, narrativ, bravourös. Mehr kann man aus dem Material wohl kaum rausholen. Und dieser Zugriff kam so überzeugend daher, dass die Vermutung nahelag, dass Marais dafür seinen Segen gegeben hätte.
Emotional unterschied das Duo aber im Programm die barocke Affektenlehre von den romantischen Empfindungen deutlich. Schuberts Sonatine D-Dur (D 384), ein gutes Jahrhundert später entstanden, bezauberte mit einer luftigen Leichtigkeit, die den Komponisten über die Wiener Biederkeit jener Zeit deutlich emporhob. Dieser Komposition eines 19-Jährigen haftete nichts Verstaubtes an. Jedem Ton entlockten die Instrumentalisten sprühende Freude am Leben, jugendliche Empfindsamkeit eines übersensiblen Geistes, schwärmerische Sehnsüchte einer liebenden Seele sowie Vitalität eines wachen Verstands.
Queyras und Tharaud machen die Entfernung zwischen Wien und Paris vergessen
Der zarte Kopfsatz kam geradezu filigran daher, zeigte aber auch Leidenschaft in den Verdichtungen. Synkopierte Sprunghaftigkeit kontrastierte im Mittelsatz mit einem anrührend melancholischen, seelentief-innigen Gesang. Die heitere Ausgelassenheit in tänzerischer Leichtigkeit im Schlusssatz vermochte dann sogar eine Brücke weit ins 20. Jahrhundert zu schlagen. Und dies in einem nahezu impressionistischen Kolorit, das die Entfernung zwischen Wien und Paris vergessen ließ.
Francis Poulenc gehörte aber schon der nachfolgenden Generation französischer Klangbildner an und griff tiefer in die Farbtöpfe. Seine ausladende viersätzige Sonate FP 143, deren Komposition vom Militärdienst im Zweiten Weltkrieg unterbrochen wurde, hält sich ans Schema der Romantik, hat aber ansonsten nichts mit dieser Epoche gemein. Da findet sich viel Tänzerisches und Kapriziöses mit einer narrativen Rhetorik darin.
Queyras und Tharaud scheuten nicht davor, die vielen Einflüsse in dem Werk deutlich herauszuarbeiten, etwa die impressionistische Atmosphäre der Cavatine, das folkloristische Poltern in der Art von Schostakowitsch oder sogar auch eine gewisse Expressivität, wie sie Strawinsky zuvor in Paris entwickelt hatte. Das Feuerwerk an Farben und intensiver Spielfreude verfehlte seine Wirkung nicht. Erst nach der dritten Zugabe (einem von Brahmsens Ungarischen Tänzen) beruhigte sich die Euphorie des Publikums.